Vorboten großer Ereignisse zeichnen sich in vielen Fällen durch ihr Ausbleiben aus.
Wie selten beobachtet man einen Schmetterling auf dem Platz des himmlischen Friedens!
Niemand sieht die feurigen Lettern des Menetekels an der Wand, die flauen Gefühle in der Nähe des Magens dagegen gelten längst als normal und die Küchenwand der Melzers ist grau und beige und hier und da mit einem Fettfleck verziert.
Dort in der Küche trug es sich zu, dass am Abend des 17.09.2012 ein Unheil seinen Lauf nahm; namenlos, heimlich und ohne irgendeine öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.
Es war ungefähr 18:05, als die harmlose Plauderei beim Abendbrot eine Wendung nahm.
Man sprach über Fußpilz und kam dann sinnigerweise auf das Thema –žPilze sammeln–œ - ein faszinierendes Thema, das alljährlich im Spätsommer und im Herbst die Phantasie erregt. Grauenhafte Funde verwester Leichen und übergroße Steinpilze, auf denen zwei drei-, oder drei zweijährige Mädchen Platz finden können -je nachdem- geistern durch die Blätter regionaler Werbegemeinschaften.
Wie wäre es?–¦ fragt man sich dann, wie wäre es? fragt man sich auch im Hause Melzer, wie wäre es, mit einem solchen Erlebnis die müßigen Gassigänge aufzuwerten? Ab in den Wald, anstatt in Stadtpark und auf den Mainuferweg? Ab in die Pilze!
Und wie das geht? Ganz einfach: man zieht los und besieht den Waldboden.
Man will auf diese Weise gewisse Dinge aufspüren, welche die Gleichmäßigkeit stören. Die Gleichmäßigkeit als Struktur, die man für gewöhnlich bestenfalls als Hintergrundrauschen wahrnimmt. Zumeist nimmt man dieses Hintergrundrauschen überhaupt nicht wahr, weil man an die wichtigen Dinge denkt. An Hausarbeit, Einkaufslisten oder woher der Nachbar das Geld für den neuen Audi hat.
Man denkt, denkt, denkt und wenn dann Hausarbeit, Einkaufslisten und Nachbars neue Freundin ihrerseits zum Hintergrundrauschen werden, sozusagen zur aufgelagerten Welle, dann sollte man sich in Obhut begeben. Aber halt: zunächst einmal geht es um Störungen erster Ordnung, um Dinge, die nicht in die Belanglosigkeit der unbeachteten Umwelt gehören.
Je nachdem, mit wie viel Glück man gesegnet ist, werden sich neben Kerfen, Mäusen, Molchen, seltsamen Gewächsen, Früchten, Blättern noch weitere Dinge in das jungfräuliche Bewusstsein schleichen –¦, Dinge, deren Namen man nicht kennt.
Und wahrscheinlich werden sich Pilze darunter befinden. Bei diesen gilt es nun die bekannten von den unbekannten zu trennen und die essbaren mit nach Hause zu nehmen. So lautet die Aufgabe.
Und welche Pilze kennt man im Hause Melzer?
Nun, da wäre zum einen der Fliegenpilz.
Zum anderen die Stinkmorchel.
Den Champignon kennt man aus dem Supermarkt, aber den wird man nicht suchen, nein, den gibt–™s auf Pferdewiese und man möchte im Wald, also "richtig" sammeln. Überhaupt: wo sollte hier auch eine Pferdewiese sein?
Was man kennt man noch?
Tja. Erebus kennt den Parasol. Den hat ihm der Simon vor Jahren beigebracht. Ziemlich groß ist der, er besitzt einen Ring um den Stiel und dieser Ring - aufgepasst! - dieser Ring lässt sich rauf- und runterschieben!
Eigentlich ganz simpel, aber die Runde um den Tisch verstummt, als Erebus sein Fachwissen vorträgt. Bis auf Ruben, der, kaum hebt Erebus zu tiefgehenden erläuternden Ausführungen an, um die Erlaubnis bittet, den neuesten Pokemonfilm zu sehen. Leo schweigt, weil er Finn Grimassen schneiden muss. Das muss er bei jeder Mahlzeit, aber heute ist es besonders dringend.
Finn schweigt ebenfalls, konzentriert, und beachtet den verzweifelt zappelnden Leo nicht. Finn schweigt konzentriert, genau so, wie man bei Erbsen schweigt. Denn die müssen aus dem Kaisergemüsedurcheinander -diesem schrecklichen Schlamassel!- herausgesucht, gereinigt, in Viererreihen abgelegt und durchgezählt werden. Das erfordert Konzentration und Schweigsamkeit.
Aber Isa, die hört zu. Und deshalb ist Erebus glücklich.
So. Das wären also die Pilze, die man bestimmen kann. Darüber hinaus existieren aber noch weitere in den Wäldern. Als da wären:
- der Steinpilz
- der Hallimasch
- der Zunderschwamm
- der Pfifferling
- der Knollenblätterpilz
Der Steinpilz ist üppig, wohlschmeckend und begehrt. Wie der Steinpilz aussieht, dass weiß der Erebus aus dem Wichtelbuch, man muss sich nur den Schornstein wegdenken. Das ist zwar ein wenig grob gewusst, aber Isa weiß es genauer. Sagt sie.
Deshalb wird man den vermutlich bestimmen können.
Wie getrockneter Steinpilz riecht, das weiß Erebus hingegen schon: wie Eberurin. Das hat Karl-Herrmann behauptet, und so etwas vergisst man sein Lebtag nicht. Nur, wonach Eberurin seinerseits riecht, das weiß niemand. Was der Sache aber keinen Abbruch tut. Schließlich sucht man Pilze, nicht Wildsäue.
Der Steinpilz besitzt Röhren anstelle von Lamellen. Und endlich, endlich kann man Wissen, erworben in der Grundschule, auch einmal praktisch verwenden. Ein gutes Beispiel für eine positive Nebenwirkung der Schulbildung. Findet Erebus. Die gewichtige Information –žRöhren anstelle von Lamellen–œ sollte man der Rasselbande jetzt einmal auf die Nase binden. Aber die wird von der Notwendigkeit eines neuen Stückchen Wissens nicht zu überzeugen sein.
Gewöhnlich ist die Jugend doch überaus streng darauf bedacht, eine möglichst große Gehirnreserve zur späteren Verwendung aufzusparen. Zudem ist es günstig, für die noch ausstehenden Vollräusche ein ausreichendes Kontingent ungenutzter Zellen vorzuhalten. Sonst kann es passieren, dass wichtige Verdrahtungen abhandenkommen, beispielsweise PINS, Superpins oder die Namen der neuesten Dschungelcampbewohner. Da ist es nur logisch, wichtiges Wissen auf max. zwei , drei Prozent des Gehirnmöglichen zu beschränken: die Verluste an genutztem Hirnmaterial durch Alkoholgenuss bleiben übersichtlich. Das kann man mathematisch untermauern.
Ihm schwant, dass er die jäh entflammte, zehn Minuten alte Leidenschaft des Pilzesammelns übertragen muss, was dem Anschein nach noch nicht gelungen ist. Ruben betrachtet missmutig den Salat und beteuert, dass er satt sei. Leo zerschneidet mit Laserblicken die Luft , die bereits vor Hitze wabert, in Richtung Finn. Finn ist zwar schon bei den Karotten angelangt, aber die Defragmentierung des Essens wird ihn noch ein wenig beanspruchen.
Insgesamt eine wenig verheißungsvolle Ausgangslage.
Der Hallimasch–¦ und da meldet sich ganz unverhofft Ruben zu Wort: –ž–¦ist das größte Lebewesen der Welt!–œ
Potztausend!
–žDer ist so alt wie Yami Yugi und riiiesengroß! So wie die Schweiz, oder mindestens hundert Fußballfelder.–œ
Noch einer, der mitmacht! Damit hat das pilzkundliche Interesse doch noch die Oberhand gewonnen, drei zu zwei.
Ja, der Hallimasch, beginnt Erebus da und erzählt von einem Pilz, den er noch nie bewusst sah. Aber stellvertretend hat der Vater Hallimasch nach dem Krieg gesammelt und auf dem Markt verkauft. Genauso wie Wasserflöhe für die übriggebliebenen Aquarianer: in Heckinghausen auf dem Wochenmarkt. Zum Hallimasch spürt Erebus also so etwas wie eine Blutsverwandtschaft, der ist ihm auch näher als Wasserflöhe, denn später, als man andere Einkommensquellen hatte, sammelte Vater immer noch Hallimasch. Ab und an, für den Eigengebrauch.
Mutter stellte sich an den Abenden, wenn Vater seine Funde höchst selbst in Butter wendete, mit dem Rücken zum Herd und wehrte Kinder ab. –žEin Toter ist genug, nicht gleich die ganze Familie!–œ
Über diesen Pilz wird man sich noch etwas informieren müssen.
Den Zunderschwamm hat Erebus bereits in früher Jugend gesucht und nicht gefunden und man kann behaupten, dass er auch zu diesem Pilz eine besondere Beziehung hat. Im sonnigen Sommer 1971 hatte er nämlich zusammen mit Susanne, der Nachbarstochter mit den langen Zöpfen, und mit Schecki, der Katze, einen Wigwam bewohnt. Im elterlichen Garten, oben auf dem ehemaligen Bahndamm, da wurde gerodet, arrondiert und entsteint, eine Feuerstelle angelegt und nach den Regeln des Buches "Überleben in der Wildnis" überlebt.
Die Birken des Stadtparkes wurden zur Saftgewinnung herangezogen, es wurde Sirup gekocht; die Birkenrinde diente der Nudelherstellung und Löwenzahnwurzeln als Kaffeeersatz.
Der Streifen Haselgebüsch, Sichtschutz zum Nachbarn, spendierte die eine oder andere Gerte zur Bogenherstellung und gewährte nun, nachdem er seinem eigentlichen Zweck nicht mehr nachkommen konnte, den Einblick in ein Terrain, das man nie zuvor wahrgenommen hatte. So hausten also die Mackes!
Lieber hätte Erebus anstelle der Nudeln aus der Birkenrinde ein Kanu hergestellt, aber die Bevertalsperre war weit. Das wusste er, weil sein Bruder und dessen törichte Bande mit ihrem großzügig dimensionierten Floß bereits an der Umrahmung des Gartentores gescheitert war. Auf dem Weg zur Bever. Davon wurde gerne und ausgiebig in Gegenwart des Bruders beim Sonntagskaffee erzählt. Man verfügte ja nur über eine Handvoll delektierlicher Episödchen.
So etwas muss man nicht wiederholen.
Zunderschwamm wird benötigt, um Feuer zu entfachen. Aber, wie gesagt, leider nicht gefunden. Der ganze Sommertraum fand ein jähes Ende, als Vater feststellte, dass der erste Bauabschnitt des Steingartens (Bauzeit 1957 bis 1970) für die Katz und einem Indianerlager gewichen war, dessen pittoreskes Aussehen ihm wenig Trost spendete.
Er bestand auf der umgehenden dem-Erdboden-Gleichmachung und Rückführung in den Steingartenzustand. Ein, zwei Jahre nach dem Nerobefehl schlief das gesamte Steingartenprojekt väterlicherseits im zweiten Bauabschnitt ein, so dass Erebus auf den Rückführungsteil der Auflage (der immer wieder hinausgezögert wurde) verzichten durfte.
Und fünfzehn Jahre nach den Indianern besiedelt Flieder das Gelände. Der schäumt im Frühling in weißen und violetten und hellblauen Tönen in den Vormittag und verzaubert die Abendluft mit seinem Duft. Die vernarbten Birken im Stadtpark könnten noch aus der vergangenen Zeit erzählen, aber niemand fragt und sie schweigen und behalten ihr kleines Geheimnis für sich. Soviel zum Zunderschwamm.
Der Pfifferling ist ausgestorben.
Woher diese Information stammt ist ungewiss, aber daran, dass weder Isa noch Erebus erwägen, jemals einen Pfifferling zu finden, erkennen wir, dass dieser Pilz ausgestorben ist.
Zumindest westlich des Bug und nördlich der Alpen.
Aber irgendwoher müssen die Mumien ja her stammen, die mit der Konsistenz getrockneter Apfelringe hin und wieder bei Feinkost Albrecht eine ökonomische Nische besetzen: aus Weissrußland (das heißt jetzt aber Belarus), Moldawien und Spanien.
Im Internet findet man Bilder aus Spanien, darauf überbordende Marktstände mit Pfifferlingen, mit Bergen von Pfifferlingen, und man liest, dass er vormals auch hierzulande in kapitalen Größen und Massen auftrat.
Solche Bilder betrachtet man schweigend, voll lähmender Ehrfurcht und mit dem Gefühl eines entsetzlichen Verlustes. Der Pfifferling ist ausgestorben.
Und dann gibt es da noch diesen Einen, diesen ganz üblen Einen, der zieht Jahr für Jahr aus und geht als Schnitter durchs Land, und wo er geht, da wölbt sich der Acker!
Der tilgt Familien aus von der Ahne bis ins letzte Glied und kennt kein Erbarmen. Vor diesem hütet euch, Kinder! Wie der aussieht? So, wie ein Champignon, aber Champignons werden ja nicht gesammelt, deshalb sind wir aus dem Schneider.
Kartoffelbovist! Fällt dem Erebus ein, ja, den Kartoffelbovisten kennt man auch noch.
Aber da sind sie schon beim gemeinsamen Tischabräumen. Der pufft so schön, wenn man drauf tritt. Und obwohl er vermutet, dass dies der Pilz ist, der die anwesenden Gemüter am ehesten gewinnt, hat er doch die Lust verloren, weiter zu fabulieren. Nun hat man eine guten halbe Stunde lang das gesamte Pilzwissen der Generationen zusammengekratzt hat, um es anderen Tages zur Anwendung zu bringen.
Das soll genügen. So wichtig sind Pilze ja auch nicht. Und deshalb kann man sich hoffnungsvoll dem Ausklang des Tages widmen, dieses letzten Tages der Vorpilzzeit. Vielleicht noch ein kurzer Blick ins Internet für weitere Aufklärung?
Es stellt sich heraus, dass das Rüstzeug für einen Streifzug durch die Pilzgärten Kitzingens eher kläglich bestellt ist. Ein Messer ist eigentlich kein Problem: gleich zu Anfang muss man ja keines mit 144fach gefeiteter Damaszenerklinge, Wellnesgriff und Sauborstenbürste einsetzen.
Aber der Brennholzkorb ist definitiv zu unhandlich, viel praktischer sind die klein zusammenlegbaren Tüten des Feinkosthändlers.
Auch, wenn von deren Gebrauch abgeraten wird. Ein Korb ist Standesehre, Symbol hoher Sammelkultur, um dessen Anschaffung wird man nicht herumkommen, sollte man tatsächlich des öfteren Pilze suchen.
Bestimmungsbücher werden nachdrücklich empfohlen, aber da man gar nicht vorhat, giftige Pilze zu sammeln, kann man sich die vorerst einmal und später schenken.
Hätte man damals gewusst, was man heute weiß, womöglich hätte man gesagt: –žAch, was soll–™s?–œ Man hätte beschlossen, die Hunde durch den Stadtpark hinunter an den Main zu bringen, den Uferweg entlang zu bummeln und das Leben zu genießen.
Doch noch in selbiger Nacht erhob Dämon Fungus sein grauses Haupt, formte die Lippen zum Kuss und die Hand zur Klaue, ergriff Erebus im Schlaf, küsste ihn und begann genüßlich zu fressen ...
LG, Uli
da geht's weiter Das erste Mal vergisst man nicht.
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