Prospektbilder vom Lago Maggiore? Traumhaft, man denkt an Urlaub, Sonne, Entspannen und Pilze.
Und genau deshalb verbringen Isa und Erebus eine Woche am Lago Maggiore. In Trarego-Viggiona, direkt am Ufer des Sees gelegen und zum Schnäppchenpreis gebucht. Das Domizil liegt nur wenige Millimeter neben dem Lago –“ ein flüchtiger Blick in Google Earth reicht aus, um die Buchung perfekt zu machen. Der Pferdefuß: es liegt schlicht sechshundert Meter über dem Ufer, das war vorher nicht klar, OK, nachher ist man klüger.
Blick von der Terrasse über die "Villa Emma" auf den Lago Maggiore:
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Die beiden gehen also bei knapp 800 subalpinen Höhenmetern auf Wolkentuchfühlung, Schnee, Regen, Nebel.
Zuhause ist das Wetter jetzt einen Tick besser, am besten gar nicht daran denken.
Wären die Hänge nicht dermaßen steil, so könnte man ja versuchen, nach Pilze zu tasten. Aber es ist unwegsam. Hinter Ästen haben sich tiefe Taschen mit Laub gefüllt, immer wieder versinkt man bis zu den Knöcheln, nebendran ist alles glatt und fest. Da geht man wie auf Eiern, das Gefälle beträgt sicher mehr als 50% und Erebus stakt sich einmal hinterm Haus durch den Steilhang, wobei ihm das Stativ gute Dienste leistet. Man kann sich drauf abstützen.
Der Erzfeind des Pilzfinders, die Brombeere, hat heimtückische Fußangeln ausgelegt. Das Fortkommen ist ruckhaft und von Schweißausbrüchen und Machtworten begleitet. Mannomann! Das ist aber auch steil.
Und was es da alles zu finden gibt! Zum Beispiel Weichporlingsreste! Und schleimige Brocken auf Rinde. Sowie Rindenpilze. Noch was vergessen? Ah ja: Pustelpilze.
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Vorteilhaft ist jedoch, dass im Untergeschoss der Dorfkrämer seine Niederlassung hat. Pannini sind fußläufig. Morgens ist der Laden proppevoll. Deutsche, die in seltsamem Pidgien-Italienisch ihre Bestellungen aufgeben. In den Regalen jede Menge Waschmittel, Kekse und Nudeln. Das verdirbt nicht und übersteht locker mehrere alpine Winter. Artikel mit Durchhaltevermögen, die niemanden interessieren. Hinter der Kühltruhe residiert Signore Biscotto und bewacht die Artikel der Begierde. Stammelnd verlangt man Parmaschinken, Kaffeesahne und Bionade, lässt im Schnitt 30, 40 Euro für ein Frühstück nach deutscher Mundart. Müsli ist out.; Signore Biscotto schneidet Prosciutto und schwitzt. Nach 11:00 könnte er den Laden schließen, dann kommt sowieso kein Schwein mehr und er läuft wie ein angekettetes Tier auf der Straße auf und ab.
Na, um dem zu entgehen muss man also diese ach-du-Scheisse-bloß-nicht-hinunterschauen-mir-wird-gleich-schlecht-hoffentlich-kommt-jetzt-keiner-entgegen-Straße hinab und hoffen, die Wolkendecke noch oberhalb der Wasserlinie zu durchstoßen.
Denn 600m tiefer, mehrere Kilometer über die vermaledeite Straße, nach sieben Spitzkehren –“ (passgenau für Fiat 500 geplant und umgesetzt) entlohnt der Anblick des Sees für alle Unbill:
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Selbstverständlich in Nebel und Regen. Aber die Temperaturen sind ca. drei Grad höher als in Trarego, das heißt, knapp über dem Gefrierpunkt. Das ist doch schon mal etwas!
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Orange, Citrus x sinensis, det. Erebus
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Hibiskus (Hibiscus spec.) , det. Erebus, sowie Parapluvius flavus, det. Erebus
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Ecclesia cannerone, det. Erebus sowie Mimose (Mimosa pudica) , det. Erebus
.. entlohnt der Anblick des Sees für alle Unbill: zumindest am Anreisetag, nach drei Stunden Stau, den sich die Österreicher mit 2€ Korridorgebühr honorieren lassen. (Wieso erinnert das bloß an einen Österreicher, der vor ziemlich genau 80 Jahren ebenfalls vom Korridor faselte?)
Naja, also am Anreisetag , sozusagen kaputtgefahren, das ganze Vergnügen hatte neun Stunden gedauert und an den Kräften gezehrt, da schien, so erinnerte man sich später, die Abendsonne durch Magnolien- und Mimosenblüten, durch Palmwedel und über Lobelienkissen an den alten Stützmauern.
Traumhaft, man dachte an Urlaub, Entspannen und Pilze.
Aber auch Montag vormittag, da überraschen wir in Cannobio die Sonne, die sich grade in Richtung Schweiz davonstiehlt.
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Carmine Superiore
Auf der einzigen Uferstraße sind Parkplätze ein rares Gut. Hat man einen ergattert oder ergaunert (ob der Wagen noch da ist, wenn man zurückkommt?), heißt es, auf der starkbefahrenen Straße um sein Leben bangend schnellstens irgendeinen Aufstieg zu finden.
Waas isse Burgersteik, eeh?
Man hat immerhin die Wahl, ob man an der Felswand oder an der Leitplanke zerquetscht wird.
Da, Schlupfloch entdeckt! Eine Treppe, gepflastert mit kindskopfgroßen Kieselsteinen (Wehe dem, der keine hohen Schuhe trägt) in unregelmäßigen Steigungen, führt steil aufwärts.
Carmine Superiore, das sind nicht etwa übergeordneten Gesänge, nein, es handelt sich um ein altes Dorf, nur zu Fuß erreichbar, und drum herum dem Berg abgetrotzte Terrassen mit Edelkastanienwäldern. Da liegen die Höhenlinien etwas weiter auseinander, ja, mit bloßem Auge auf der Karte unterscheidbar. Also begehbar. Man wird zum Fuchs, wenn man am Lago erträgliche Gehstrecken sucht. Am Wegesrand finden wir tatsächlich etwas dickere Pilze
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Oben angekommen.
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Carmine Superiore? Si! Der Alte kneift die Augen zusammen und blickt den Berg hinauf. Si! Carmine Superiore! Er weist auf den Steilhang, bewachsen mit niedrigem Strauchwerk, zwischendrin Mimosen, bemoste Felsen, büschelweise Primeln und blau funkelnd das Kleine Immergrün. Sein Zeigefinger wandert unentschlossen am Hang entlang, noch etwas höher, weiter rechts, si, si! Carmine Superiore! Venti minuti! .. Das klang jetzt aber eher fragend. Zwanzig Minuten? Um diese Steilwand zu bezwingen? No, no, Signore, de Ca' Bianca.
Ca' Bianca. Logo. Das ist grobgesagt: unten. Da steht der Wagen auf dem Restaurantparkplatz. Wenn er nicht schon abgeschleppt wurde. Rauf war die Treppe, sagen wir: schwierig. Abwärts ist sie schlicht und einfach ein Affront und verstößt gegen die Genfer Menschenrechtskonventionen. Keine Zeit für Pilze, hier wird höchste Konzentration verlangt.
Wir Hammel hatten die Felswand gewählt, Leitplanke wäre richtig gewesen, um Aug' in Aug' dem letzten Auto zu begegnen.
Diesmal also Leitplanke.
Jetzt fallen uns die Plaketten an der Felswand gegenüber auf. Namen, Keramikbilder, Jahreszahlen, 1932-1962, 1945-1968, auffallend viele sechziger Jahre dabei - unsere VorGÄNGER? Aber wieso wurde hier seit 1969 niemand mehr zur Strecke gebracht? Platz für weitere Plaketten wär genug.
Ein Busfahrer droht mit der Faust und macht einen angedeuteten Schlenker zur Gegenfahrbahn, lässt uns einen halben Meter Raum zur Leitplanke. Feigling.
Das Auto steht an Ort und Stelle. So soll es sein. Wir winken ihm zu und hoffen auf ein Wiedersehen.
Diesmal keine Treppe, sondern ein Fußpfad in matschigen Serpentinen.
Italien wäre für den Sauerländischen Gebirgsverein ein gefundenes Fressen. Die könnten sich hier schier um den Verstand bewanderwegen und würden womöglich im Beschilderungsorgasmus sterben, ohne ein vollendetes Werk zu hinterlassen. Wo bitteschön, bekommt man soviel terra incognita noch an einem Stück?
Ja. So ist das. Erst in der Fremde weiß man die Heimat zu schätzen.
Und wieder zurück. Ein freundlicher Herr mit Fernsteuerungs-Mini-Raupenfahrzeug weist uns den Weg. Begegnung der dritten Art: "Sie können Deutsch mit mir sprechen." Also am Telefonmast links.
Bald wird es wieder steil, wir japsen uns durch den Kastanienwald hinan, bis wir auf eine gepflasterte Maultiertrasse stoßen.
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Es ist der alte Verbindungsweg zwischen Cannero und Cannobio. Gehbar. Nach fünfhundert Metern blicken wir direkt unter uns auf das Dach des Zwanzigminuten-Italieners. Dem war der Weg durch den Garten entfallen. Oder, was wahrscheinlicher ist, der hatte seinen Hof noch nie verlassen und schlichtweg keine Ahnung. Was sehr wahrscheinlich ist, angesichts der Treppe.
Aus zwanzig Minuten wird schnell eine halbe Stunde und dann eine Ganze. Wenn man
a) keinen Bock zum Marschieren hat
b) die Pumpe protestiert sowie die Hüfte
c) ein Dämlack dabei ist, der Pilzfotos machen will.
Kaum schimmert der Hauch eines Dunstes durch das Pilzauge, schlägt der sein Lager auf. Erebus schleppt seine Ausrüstung nicht zum Vergnügen mit sich herum. Die will zweckmäßig angewendet werden. Zum Beispiel für Weichbecherlinge auf Edelkastanie. Für Grünspanbecherlinge auf Edelkastanie (die sahen schon bessere Tage), für dies und das auf Edelkastanie.
Bisweilen auch auf Hasel. Oder Birke.
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Der Weg zieht sich, die Strecke potenziert sich im Quadrat zu den Pilzfindungen und schließlich heißt es: nö, bis Carmine Superiore ist es ganz einfach zu weit. Und was gibt es da schon zu sehen? Eine Kirche, ein paar Häuser, vermutlich keine Pilze, das kann man sich auch schenken. Am Wegesrand noch Mimikri auf Birke
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Das waren also Samstag, Sonntag und Montag. Wie wird es wohl am Dienstag werden?
Für sachdienliche Hinweise zu den Pilzen –“ zu manchen habe ich eine unsichere Cf-Ahnung - bin ich sehr dankbar,
LG, Uli
[hr]