Jeder kennt sie, die Phantome in der Welt der Pilze. Morcheln zu Beispiel, der blaue Rindenpilz, der glänzende Schwarzborstling, von diversen Ascomyceten ganz zu schweigen.
Die Rede ist von Pilzen, die man auf Fotos sehen kann, die in der Literatur beschrieben sind, die augenscheinlich überall gefunden werden, die es aber in Wirklichkeit gar nicht gibt. Jedenfalls sucht man sich seit Jahren die Augen danach aus, durchstreift passende Biotope per Fahndungsraster, aber nix, nada, null.
Aber ich will von Anfang an berichten.
Gestern war so ein richtiges Schietwetter. Regen, Wind, dunkel. Hab den ganzen Tag auf der Couch gegammelt oder Dungis mikroskopiert. Heute das selbe Wetter. Wieder den ganzen Tag in der Bude hocken ? Nee, dann lieber die Gassi-Runde mit den beiden Fußhupen laufen. Die freuen sich bestimmt, wenn es raus geht.
Beide fläzen sich auf der Couch, bewegen sich nur um eine andere Schlafstellung einzunehmen.
"He Ihr faulen Säcke. Auf gehts raus in den Wald. Mäuse fangen, Bäume anpinkeln, Wildschweine fangen."
Biene, die junge Dame hebt ganz leicht den Kopf. Grad so weit dass sie aus dem Wohnzimmerfenster schauen kann. Ein kurzer Blick nach draußen. Ein Blick in meine Augen. Ich lese in ihren die Frage, ob ich noch alle Latten am Zaun habe. Der andere hebt nicht mal den Kopf, tippt sich nur mit einer Kralle an die Stirn.
Na gut, dann halt nicht. Geh ich halt alleine. Große Lust auf eine ordentliche Exkursion hab ich aber auch nicht. Ich beschließe, die Gassi-Runde alleine zu gehen. Die fängt 200 Meter hinter dem Haus an und führt auf einen Rundweg durch den Fichtenwald. Wie oft ich die schon gelaufen bin ? Mal sehen. Sicher jeden zweiten Tag. Sagen wir 180mal im Jahr. Seit 50 Jahren, eher noch etwas länger. Also run 9000 mal. Ein paar hundert rauf oder runter. Sommer wie Winter, morgens, mittags, abends und sogar nachts. Ich kenne dort jede einzelne Tannennadel, fast jedenfalls. Kein Zentimeter Böschung, den ich nicht schon hundertmal abgesucht habe, kein morscher Stubben den ich nicht umrundet, kein Ast, den ich nicht schonmal aufgehoben hätte.
Die Linien meiner Handflächen sind mir fremder, als dieses Stück Wald.
Wenn ich dem Wunsch nachgehe etwas Neues zu entdecken, das wäre der allerletzte Ort an dem ich danach suche. Was könnte das auch sein? Ein frisches Häufchen von Hasso, der mit seinem Frauchen ebenfalls diesen Weg täglich abläuft. Ein Tannenzapfen, den der Sturm gestern Nacht vom Baum gefegt hat. Das wären schon die Highlights.
Eagl, Hauptsache mal raus aus der Bude. Warum ich den Rucksack und die Kamera mitnehme? Keine Ahnung. Gewohnheit? Unverbesserlicher Optimismus? Instinkt?
Die Runde beginnt wie tausende zuvor. Ein paar Fichtenzapfenrüblinge, ausgelutschte Stäublinge, drei frische Rauchblättige Schwefelköpfe sind schon bemerkenswert. Mal auf die Lichtung, die der Sturm vor ein paar Jahren geschlagen hat. Vielleicht finden sich ja ein paar Rehkuddeln, die ich noch nicht kenne.
Und dann stehe ich vor dem alten Fichtenstubben und kann es nicht glauben. Scheibenlorcheln !!!! Jedes Jahr gesucht, aber noch nie gefunden. Sicher ein Dutzend, noch ganz jung. Ein Pilz, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Hier, an der Gassi-Runde. Ich bin überwältigt, schaue mich um ob ich nicht aus versehen ganz woanders hingegangen bin. Schaue wieder auf den Stubben. Sie sind tatsächlich noch da. Keine Fata Morgana.
Es folgt ein Prozedere dass wohl jeder kennt, der einen persönlich ganz besonderen Fund gemacht hat und diesen auch fotografieren will. Egal wie kümmerlich der Fund ist, wie unansehnlich oder unzugänglich. Da wird das Objekt der Begierde freigelegt. Was sind schon ein paar Brombeerdornen in den Fingern. Man kniet im Matsch, stützt sich mit den Ellenbogen auf die nasse Erde. Das Stativ versinkt halb im Schlamm. Egal, das muss so gut wie möglich fotografiert werden. Klick, Klick, Belichtung ändern, Perspektive ändern. Nochmal zurück und mit Blitz. Aufhellen, abschatten. Zur Sicherheit das Ganze nochmal von vorne. 50 Fotos sind da gar nix. Nach einer halben Stunde ist es genug. Knie und Ellenbogen sind durch und durch von Wasser und Matsch getränkt. Aber das war ´s wert.
Kamera verstaut, ein paar Belegexemplare eingedost und weiter gehts.
Aber nicht sehr weit, nur ein paar Meter. Da stehen nämlich noch mehr. Größer und schöner als die ersten. Frei von Brombeeren und anderem Gesträuch. Also Rucksack runter, Kamera raus und das Ganze erneut. Nur etwas einfacher und angenehmer, aber immer noch nass.
Diesmal dauert es nur eine Viertelstunde bis die 50 Fotos im Kasten sind. Wieder eine Probe mitgenommen und weiter.
Immer wieder sehe ich hier und da Scheibenlorcheln. Die kann ich doch all die Jahre nicht übersehen haben. Nein, unmöglich. In Gedanken noch mit den Phantomen beschäftigt, fällt mein Blick auf den Boden.
Was zur Hölle......??????
Das kann doch jetzt nicht wahr sein.
Der kleine Erdstern ist zwar kein richtiges Phantom, denn immerhin hat meine Frau bei einem Spaziergang mal so beiläufig erwähnt: " Och kuck mal, das sieht aber lustig aus" und meinte damit einen einsamen Kleinen Erdstern, der genau auf Augenhöhe an der Böschung stand. Auch nach dem habe ich mir in den Folgejahren die Augen weggesucht. Und jetzt stehen sie da. Frei, direkt am Weg, unübersehbar. Natürlich nur noch Mumien, aber immerhin. Diesmal geht das fotografieren schnell, denn starker Wind ist aufgekommen und die Altfichten neigen sich bedenklich. Überall herumliegende Fall- und Knickstämme als Folge des letzten Sturms mahnen, den Wald zu verlassen.
Und kurz vor dem Ende des Rundweges stehe ich erneut vor Scheibenlorcheln. Noch größer, noch schöner, noch mehr. Unfassbar, aber leider nur gewöhnliches Zeugs. Trotzdem noch schnell ein paar Fotos geknipst und raus aus dem Wald.
Was lehrt mich das ?
Egal, wie häufig andere einen bestimmten Pilz finden. Der erste Eigenfund ist immer was besonderes.
Egal, wie oft man bestimmte Wege geht oder bestimmte Stellen aufsucht, man kann immer noch was Neues entdecken.
Egal wieviele Fotos man vom ersten Fund macht und wieviel Mühe das bereitet, danach findet man bessere und schönere.
Egal wie banal ein Fund ist, man kann immer eine recht lange Geschichte drüber schreiben.
Ach ja, natürlich habe ich mikroskopiert. Seltsamerweise waren alle Proben noch unreif und keine Spore zu finden. Daher ist die Bestimmung rein makroskopisch und kann sich, zwar unwahrscheinlich, aber noch ändern. Wäre aber egal, denn auch dann wäre es ein Erstfund.