Viel Neues und Verwirrung bei Clitocybe und Lepista

Es gibt 20 Antworten in diesem Thema, welches 2.533 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag () ist von Schupfnudel.

  • Hallo zusammen


    Diesen Winter kam in China eine neue Arbeit über Clitocybe s.l. und Lepista s.l. heraus:

    https://www.researchgate.net/publication/375959665_Systematic_arrangement_within_the_family_Clitocybaceae_Tricholomatineae_Agaricales_phylogenetic_and_phylogenomic_evidence_morphological_data_and_muscarine-producing_innovation


    Darin wird so ziemlich alles, was wir zu wissen glaubten, umgebaut. Das war allerdings schon absehbar, das bisherige Konzept von Clitocybe und Lepista war nicht dauerhaft aufrechtzuerhalten.

    Entsprechende Hinweise finden sich z.B. auch bei Alvarado et al. 2018 (Atractosporocybe, Leucocybe and Rhizocybe: three newclitocyboid genera in the Tricholomatoid clade (Agaricales) with

    notes on Clitocybe and Lepista. Mycologia 107:123–136).


    Offenbar sind viele klassische Trichterlinge und Rötelritterlinge näher mit der Gattung Collybia s.str. verwandt, als mit den anderen Vertretern ihrer Gattung.

    Diese winzigen Rüblinge, die auf alten Pilzen wachsen, sind nun also in der gleichen Gattung wie der Violette Rötelritterling oder der Anistrichterling.

    Weiter wird die von der Wissenschaft lang nicht akzeptierte Gattung Pseudolyophyllum wieder ins Leben gerufen, für Trichterlinge mit zartem Habitus (vereinfacht gesagt).


    Der Fokus der Arbeit lag auf dem asiatischen Raum, deshalb sind im Moment nur wenige europäische Arten betroffen. Aber dafür kennt man die nur zu gut und muss sich jetzt an neue Namen gewöhnen:


    Alter NameNeuer Name
    Clitocybe odoraCollybia odora
    Clitocybe phyllophila (inkl. cerussata, pithyophila)Collybia phyllophila
    Clitocybe dealbataCollybia dealbata
    Clitocybe dryadicolaCollybia dryadicola
    Clitocybe rivulosaCollybia rivulosa
    Lepista irinaCollybia irina
    Lepista nudaCollybia nuda
    Lepista personataCollybia personata
    Lepista sordidaCollybia sordida
    Clitocybe metachroaPseudolyophyllum metachroum


    Für die meisten europäsischen Arten wird es wohl weitere Änderungen geben.


    Gruss Raphael

  • Moin,

    als Laie frage ich mich:

    muss sich jetzt an neue Namen gewöhnen:

    Weil es eine Veröffentlichung gibt, werden die ganzen Namen geändert?


    VG Oskar

    VG Oskar

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  • Hallo Oskar


    Ja, solche wissenschaftlichen Publikationen sind (meistens) der Quelle von neuen Namen.

    Grundsätzlich kann jeder Namen ändern, man unterliegt dabei aber gewissen nomenklatorischen Richtlinien.

    Die Änderung muss unter anderem nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft begündbar sein.

    Was heute z.B. nicht mehr ginge, wäre alle Pilze mit Stielring oder alle blauen Pilze in einer Gattung zusammenzufassen.


    Bis sich diese neuen Namen durchsetzen, wird es wohl sehr lange dauern. Vor allem wenn es so bekannte Arten sind.

    Die bisherigen Namen sind jetzt auch nicht falsch, sie entsprechen einfach nicht mehr dem neusten Stand der Wissenschaft.

    Gerade unter Laien darf man mit ruhigen Gewissen noch viele Jahre von "Lepista nuda" und "Clitocybe odora" sprechen, das wird jeder verstehen.


    Gruss Raphael

  • Hallo zusammen,


    man kann schon alle blauen Pilze in eine Gattung stellen. Das entspricht dann zwar nicht dem, was heutigen Stand der Wissenschaft entspricht, wo man Gattungen monophyletisch haben möchte. Aber Blödsinn darf man ja durchaus produzieren. Man muß deshalb auch zwischen gültigen Namen (den im Code gegebenen Regeln genügend) und den als aktuell "richtig" akzeptierten Namen unterscheiden. Es gibt doch da diesen einen Menschen, der regelmäßig alle Dickröhrlinge zu Boletus stellt. In Zeiten von online-Pubikationen ist das schnell und einfach gemacht und dann existiert dieser Name erstmal. Wird sich natürlich nicht durchsetzen, ist dann aber eben ein gültiges Synonym zu den aktuell akzeptierten Namen.


    Von daher muß man auch erstmal abwarten, was sich da bei Clitocybe und Lepista in Zukunft noch ergibt, insbesondere wenn auch europäische Arten in großem Stil untersucht werden. Insbesondere fällt ja auch, daß in dem oben erwähnten Paper für die europäischen Arten keine Typus-Sequenzen benutzt wurden (ist bei dem Thema der Arbeit, nämlich der Untersuchung, wie sich die Muskarin-Bildung in dieser Pilzgruppe entwickelt hat, vielleicht auch nicht zwingend erforderlich, wäre aber fürs Umkombinieren von Arten schon wünschenswert).


    Björn

  • Danke Raphael!

    Danke Björn!


    Ich habe mein Leben lang auch wissenschaftlich gearbeitet. In der Elektrischen Energietechnik gilt das Neue, wenn eine Norm erschienen ist; nicht wenn einer eine Publikation geschrieben hat.

    Es kam =>eine<= neue Arbeit heraus, daraufhin ändert sich alles?

    Ich verstehe im Bereich der Mykologie oftmals sowieso nicht, dass der Pilz neben der Eiche ein anderer ist, weil er nicht neben der Buche steht. ;)

    Dann nehme ich die Deutschen Namen. ^^

    Bei meinem Kenntnisstand lohnt es sich nicht über Namen nachzudenken. Daher habe ich mir den Vortrag

    18. Jänner 2024Dr. Christoph HahnWie definiert man eine Art?

    auch nicht angehört.

    Ich danke für Eure Antworten!

    VG Oskar

    VG Oskar

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  • Hallo Oskar,


    als Fachfremden irritiert mich das Konzept "Art" und der Umgang damit auch regelmäßig.


    Es erscheint mir gleichzeitig sehr willkürlich, und andererseits dann oft zu dogmatisch- wie hier mit dem Artikel.


    Für mich lautet mein derzeitiges Verständnis davon, wie Änderungen an der Systematik erfolgen, ähnlich wie auch in der Physik neue Theorien etabliert werden:

    Autoren veröffentlichen Änderungen.

    Das kann prinzipiell jeder, und daraus folgt zunächst nicht viel.

    Es ist dann an der Forschergemeinde, diese Änderungen zu prüfen und zu akzeptieren oder verwerfen.

    In der Physik gibt es dafür keinen etablierten Prozess, im Prinzip entscheidet jeder Forscher für sich, ob er die Änderungen mitgehen will oder nicht.

    Ich nehme an, in der Biologie wird es nicht viel anders sein?


    Boccaccio s Post scheint mir diese Vermutung zu bestätigen ?


    Wenn eine Änderung mit starken Argumenten unterfüttert (ich denke gute Sequenzierungdergebnisse werden das in dem Fall sein?) und daher aber absehbar ist, dass die Änderungen sich in der Gemeinde durchsetzen werden, macht man es sich leicht und schreibt einfach "muss jetzt geändert werden" statt "die vorgeschlagenen Änderungen sind so plausibel, dass absehbar ist, dass die Mehrheit der Mykologen diese letztlich akzeptieren wird."


    Gerade deswegen hätte ich mir Christophs Vortrag sehr gerne angesehen - vielleicht hätte der einiges Licht ins Dunkel gebracht. Leider ist er ja ausgefallen. :|

    Nunja, vielleicht wird er noch nachgeholt?


    Viele Grüße

    Michael

  • Moin Michael,

    Danke für Deine Antwort.

    Ich versuche mich in dem vorgegebenen System zurechtzufinden, ordne aber meine Gedanken und Notizen in einer von mir etwas abgeänderten Weise.

    Derzeit bemühe ich mich Eigenschaften einiger Gattungen zu erkennen, um die Bestimmung der Arten zu vereinfachen. Da gehören die beiden oben genannten nicht dazu.

    VG Oskar

    VG Oskar

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  • Es gibt doch da diesen einen Menschen, der regelmäßig alle Dickröhrlinge zu Boletus stellt.

    Ah, Du meinst mich... 8o


    Ehrlich gesagt, ist es mir manchmal zu mühselig, mir den ganzen neumodischen Kram zu merken. Bringt auch nicht richtig was für Nichtwissenschaftler, ob das Teil jetzt Boletus oder Neoboletus heißt. Davon abgesehen sind mir die umkombinierten Lepista so unähnlich zu Collybia, dass mir die Sache nicht so recht in den Kopf will. Vielleicht heißen die alle in einem halben Jahr auch schon wieder anders...


    Konservative Grüße

    Harald

  • Hallo Raphael,


    ich hatte diese Arbeit bereits mit Interesse gelesen, finde die tabellarische Übersicht der umkombinierten europäischen Arten aber sehr praktisch. Danke dafür!


    Mich haben die Umbenennungen früher auch eher genervt, aber seit ich mich ein bisschen mit der zugrunde liegenden Phylogenetik befasst habe, verstehe ich den Sinn dahinter und finde alle neuen Erkenntnisse diesbezüglich spannend. Es ist schon nachvollziehbar, dass nur Arten in übergeordneten Taxa (z.B. Gattungen) zusammengefasst werden sollten, die auch wirklich verwandt sind. Und weil der erste Teil des wissenschaftlichen Namens dem Gattungsnamen entspricht, müssen deshalb natürlich auch immer mal wieder Lebewesen umbenannt werden, wenn die Sequenzierung ergibt, dass sie in eine andere Gattung gehören.

    Deshalb verfolge ich interessiert neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Und wie langweilig wäre es, wenn die Wissenschaft stillstehen und sich nicht weiterentwickeln würde!


    Viele Grüße

    Emil

  • Eine weitere Schwierigkeit, die hier besteht, ist, dass Clitocybe dealbata ein Nomen dubium ist und eigentlich seit 2014 Clitocybe quisquiliarum genannt werden muss. Somit ist die Umkombinierung wohl nicht auf den Feld-Trichterling anwendbar. Kann mir jemand erläutern, von welcher Art da die Sequenz verwendet wurde? Ist es das, was unserem europäischen Feld-Trichterling entspricht (also eigentlich C. quisquiliarum nach Peter Specht)?

  • Hallo zusammen,


    im Artikel wird als Herkunft der C. dealbata Sequenz "IE-BSG-HC95cp3" angegeben. Wenn man danach in Genbank sucht, landet man schließlich bei diesem Artikel hier. Dort wird als Quelle das Institut d'Ecologie-Botanique, Systématique et Géobotanique, University of Lausanne" angegeben. Das hilft zwar auch nicht wirklich weiter, aber immerhin scheint es sich dann ja um eine mitteleuropäische Aufsammlung zu handeln.


    Björn

  • Hallo zusammen


    Peter schaut hier wohl nicht regelmässig vorbei, ich versuche es mal... bitte korrigiere mich, wer auch immer mehr Ahnung von der Thematik hat.


    In Abb. 3 der Arbeit kann man mit viel Mühe entziffern, welche Sequenzen für C. dealbata verwendet wurden:

    Clitocybe rivulosa voucher AH44075 18S ribosomal RNA gene, partial seq - Nucleotide - NCBI

    Clitocybe dealbata voucher AH39082 18S ribosomal RNA gene, partial seq - Nucleotide - NCBI

    Clitocybe dealbata voucher AH39096 18S ribosomal RNA gene, partial seq - Nucleotide - NCBI

    Von diesen drei Kollektionen gibt es meines Wissens keine Beschreibung, oder ich finde sie gerade nicht.

    Also wissen wir nicht, ob das unser "Feldtrichterling" ist, oder vielleicht das gleiche wie Peters "Clitocybe quisquiliarum", oder vielleicht sogar noch etwas anderes.


    Die drei Sequenzen stammen aus einer anderen Arbeit, nämlich Alvarado et al. 2018.

    Diese Autoren weisen bereits darauf hin, dass der ganze Komplex aus molekularer Sicht umgebaut werden muss.

    Die Chinesen haben hier also nur die Arbeit einer anderen Autorengruppe fortgeführt, ohne eigene, neue Erkenntnisse bzgl. C. dealbata.

    Vermutlich haben sie sich mit dem Namen "Clitocybe dealbata" auch nur oberflächlich auseinandergesetzt.


    Also was ist nun "Collybia dealbata"? Das ist weiterhin unklar! Die Chinesen haben einfach der Art, zu der diese drei genannten Sequenzen gehören, und die in der Genbank zweimal "Clitocybe dealbata" heisst, und einmal "Clitocybe rivulosa", den neuen Namen "Collybia dealbata" gegeben.

    Aber ob das wirklich das gleiche ist wie der Pilz, den Sowerby im Jahr 1799 "Agaricus dealbatus" taufte, wissen wir nicht.

    Dazu müsste der Typusbeleg von Sowerby sequenziert werden, das ist bisher nicht geschehen oder zumindest nicht öffentlich zugänglich.

    Oder falls es keinen (oder keinen verwertbaren) Beleg gibt, müsste jemand einen Neotypus bestimmen. Auch das ist nicht geschehen.


    Die Arbeit von Peter (und damit auch C. quisquiliarum) wurde von den Chinesen gekonnt ignoriert. Oder besser gesagt: Nicht wahrgenommen.

    Der Name C. quisquiliarum hat sich schon im deutschsprachigen Raum wenig durchgesetzt, weltweit dürfte ihn kaum jemand wahrgenommen haben.

    C. quisquiliarum wurde als Name zweifellos gültig publiziert, aber ohne eine öffentlich zugängliche Typussequenz. Vermutlich wurde der Typus nie sequenziert.

    In den üblichen Datenbanken (Index Fungorum, Mycobank) findet man zwar Clitocybe quisquiliarum, aber keinerlei Bezug zu Clitocybe dealbata. In der Genbank findet man das Taxon überhaupt nicht.

    Zumindest im Index Fungorum hätte man eintragen können, dass Clitocybe quisquiliarum = "Clitocybe dealbata (Sow.: Fr.) P. Kumm ss. J. E. Lange, E. Ludw." ist.

    Ohne entsprechenden Eintrag in den üblichen Datenbanken macht man es ausländischen Autorengruppen, die primär molekular arbeiten, sehr schwer überhaupt auf ein Taxon aufmerksam zu werden. Es gibt weltweit hunderte Zeitschriften von denen viele kaum online zugänglich sind. Niemand kann die alle lesen. Wenn dann weder in der Genbank, noch im Index Fungorum, noch in der Mycobank ein Hinweis zu entdecken ist, dass Clitocybe quisquiliarum irgendwie im Zusammenhang mit Clitocybe dealbata steht, dann wird höchstwahrscheinlich auch kein chinesischer Wissenschaftler auf die Idee kommen, sich mit Clitocybe quisquiliarum zu beschäftigen.

    Ja natürlich, bei einem wirklich fundierten wissenschaftlichen Vorgehen müsste man das erwarten. Aber dafür fehlt es an Zeit und Geld.


    Also, diese Autoren sammeln einfach alles, was in der Genbank an Sequenzen aus vertrauenswürdigen Quellen zu finden ist, und arbeiten damit weiter.

    Mit dieser Arbeitsweise gehen die Autoren ihrerseits wieder das Risiko ein, dass ihr Name sehr schnell wieder zum Synonym wird.

    Wenn nun jemand die europäischen Typus-Belege sequenzieren würde, oder Neotypen definiert, kann sich alles wieder ändern.


    Eigentlich können wir von Glück reden, dass in der Arbeit nur so wenige Arten umkombiniert wurden.

    Wenn man das etwas seriöser bearbeitet, könnte man viele Fragezeichen in dieser Gruppe lösen.

    Die vorliegende Arbeit hat keine Fragen beantwortet, keine taxonomischen Verwirrungen gelöst, sondern einfach mehr Verwirrung gestiftet.


    Gruss Raphael

  • Hallo Raphael,

    zu allem Übel kommt ja noch hinzu, dass in der Literatur C. rivulosa als Synonym zu C. dealbata gestellt wird und umgekehrt. Ohne Beachtung der Autorenzitate wird dann plötzlich der Rinnigbereifte Trichterling oder auch Bleiweißer Wiesen-Trichterling (C. rivulosa) den man meist auf mageren sandigen Wiesen findet zu einer nitrophilen Art (Clitocybe quisquiliarum).
    z. B. Pilze der Schweiz 3: Clitocybe dealbata (Sow.: Fr.) P. Kumm ss. Fr. Lamoure = C. rivulosa ss auct plur.

    LG Karl

  • Hi,


    man kann den Artikel auch erst Mal ignorieren und abwarten, was sich taxonomisch da noch so tut. Bei den ganzen tax. Unklarheiten, die hier wohl vorliegen wäre das für mich das naheliegendste.


    l.g.

    Stefan

    Risspilz: hui; Rissklettern: bisher pfui; ab nun: na ja mal sehen...


    Derzeit so pilzgeschädigt, das geht auf keine Huthaut. :D


    Meine Antworten hier stellen nur Bestimmungsvorschläge dar. Verzehrsfreigaben gibts nur vom PSV vor Ort.


    PSV-Prüfungstemine 2024: hier

  • Moin Raphael,

    Für die meisten europäsischen Arten wird es wohl weitere Änderungen geben.


    bei den Champignonartigen wird wohl aktuell allgemein einiges "reorganisiert":


    Family matters inside the order Agaricales


    Viele Grüße

    Marcel

    »Experts do not exist,

    we all are beginners

    with greater or lesser knowledge.«

    Luis Alberto Parra Sánchez

  • Sehe ich auch so, siehe:

    https://onlinelibrary.wiley.com/doi/pdf/10.1002/tax.13149

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