Die stillen Jäger
Auch bescheidene Menschen neigen zur Gier, wenn sie Pilzsammler werden.
Eine Charakteristik
Holger Reischock
Den echten Pilzsammler erkennt man sofort. Ein innerer Zwang treibt ihn im Wald dazu, den Blick ununterbrochen über den Boden schweifen zu lassen, um im weiten Umkreis jede Auffälligkeit zu registrieren, die im Verdacht stehen könnte, ein Pilz zu sein. Selbst wenn er schon schwer unter der Last voller Pilzkörbe ächzt, wird er solche Verdachtsmomente nicht ungeprüft lassen. Auch im normalen Leben vergleichsweise bescheidene Menschen neigen zur Gier, wenn sie zum Pilzsammler werden. Nie würden sie es übers Herz bringen, auch nur ein winziges Steinpilzchen mit noch unschuldig weißem Hut stehen zu lassen. Es könnte anderen in die Hände fallen.
Wenn, wie gerade jetzt, die Pilze wachsen, kann man den Pilzsammler vorübergehend aus seinem Freundeskreis streichen. Sonnabends hetzt er in aller Frühe los zu seiner Pilzstelle, die bei ihm Eingang unter die zehn bestgehüteten Geheimnisse dieser Welt gefunden hat. Selbst die Beschreibung der Gegend, in welcher sich die Pilzstelle befindet, fällt eher vage aus: Also da hinter der Autobahn ist so ne Betonstraße, und dann immer links... Noch weniger käme dem Pilzsammler in den Sinn, einen Fremden dorthin mitzunehmen. Nichts ist schlimmer, als mit Leuten auf die Pilzsuche zu gehen, die im Wald von der permanenten Furcht geplagt werden, nie wieder herauszufinden und deshalb dauernd durch laute Schreie ihre aktuelle Position durchgeben müssen.
Immer, auch in schlechten Pilzzeiten, geht der echte Pilzsammler mit einem Korb in den Wald. Standhaft erträgt er im Falle des Misserfolgs die Häme der anderen, die ja gleich gewusst haben, dass es keine Pilze gibt und selber nur eine Plastiktüte in die Tasche gesteckt haben. Für alle Fälle. Für den echten Pilzsammler ist allein die Vorstellung, Pilze in einer Plastiktüte zu transportieren, eine viel größere Schmach als ein leerer Korb.
Ohnehin tritt dieser Fall bei ihm nur relativ selten ein. Anders als die Amateure, die im besten Fall Steinpilze, Maronen, Pfifferlinge und Birkenpilze zu unterscheiden wissen, kann der echte Pilzsammler auch auf Sorten zurückgreifen, die andere höchstens nehmen würden, wenn sie damit ihre Frau umbringen wollten. An die dreihundert Pilzarten in unseren Breiten sind durchaus essbar, und dies nicht nur einmal. Gelassen tut der echte Pilzsammler die Krause Glucke, den Parasolpilz oder den Erdritterling ins Körbchen, und wenn der letzte Steinpilz vom Nachtfrost dahingerafft ist, wendet sich sein Interesse eben dem Bereiften Trichterling zu, der nur im Winter wächst.
Sonntags noch einmal auf die "stille Jagd" zu gehen, wie es so schön lyrisch heißt, kommt für den echten Pilzsammler nicht in Frage. Er muss seine Beute, die schon am Sonnabend ein Mehrfaches des größten anzunehmenden Eigenbedarfs ausmachte, verarbeiten. Der beißende Geruch von heißem Essig durchweht die Wohnung, wenn die klitzekleinen Pilze zum Einlegen präpariert werden, in Pfannen brutzeln die zerschnittenen Exemplare, die sich später, portionsweise verpackt, im Tiefkühlschrank zu den Pilztütchen gesellen werden, die noch vom vorigen Jahr übrig sind. Auf allen Möbeln, bevorzugt in der Nähe von Heizkörpern, machen sich Bleche, Körbe, Tücher oder Zeitungen mit Pilzschnipseln breit. Pilze müssen langsam trocknen, die Backröhre als Mittel zur Beschleunigung des Prozesses ist dem echten Sammler verpönt.
Solche Arbeiten nehmen leicht eine Woche in Anspruch, und dann fordert das nächste Wochenende unerbittlich Überlegungen heraus, ob nicht inzwischen wieder neue Pilze nachgewachsen sein könnten, bei denen es schade wäre, sie irgendwelchen hergelaufenen Amateuren zu überlassen. Der ewige Kreislauf von Sammeln, Putzen, Verarbeiten und wieder Sammeln endet mit dem ersten Schnee, und dann ist auch bald schon Weihnachten. Und während alle nach Geschenken herumrennen, kann sich der echte Pilzsammler lächelnd zurücklehnen. Seine Geschenke stehen, luftdicht abgeschlossen in großen und kleinen Konservengläsern, seit dem späten Herbst im Schrank bereit.
Quelle: Berliner Zeitung