Lieber Marcel,
als einer derjenigen, die Schlüssel erstellen, möchte ich auch meinen Senf dazu abgeben.
Ich sehe zwei Aspekte:
1.) Fehler bei der Schlüsselkonstruktion (z. B. Logikfehler)
2.) Nicht eindeutig feststellbare Variationsbreite der Merkmale
Vorweg ohne Schlüssel - wenn ich eine Art "einzeln" erlernt habe, dann merke ich mir auch gewisse Merkmale. Dass der Flocki Röhren und Poren hat, gehört dazu. Und dass die Poren sehr bald rot sind, auch. Dann macht man ihn wohl am blauenden Fleisch fest, das vor dem Blauen stark gelb ist. Und der Hut ist trocken filzig, feucht nicht so sehr.
Was, wenn ein Flocki mal nicht blaut? (Sowas gibt es) Dann erkennt man ihn vielleicht nicht. Vielleicht aber doch, weil man genug andere Merkmale hat, um ihn "festzumachen".
Ein Schlüssel soll ein Hilfmittel für die Bestimmung sein. Dafür erstellt man (so sollte es sein) Merkmalstabellen - zum Beispiel alle "Dickröhrlingsarten" i.w.S. Dann erkennt man, dass es einige mit roten Poren gibt, einige mit gelben, die schon jung gelb waren und andere, die jung weiß sind, dann gelb werden. Man sieht auch, dass es weißfleischige gibt. Oder trockenhütige und schmierighütige. Oder mit Netz am Stiel und ohne Netz... glatt oder Flocken...
Man wählt jetzt ein Merkmal, das sicher aus allen Dickröhrlingen i.w.S. zwei Gruppen trennt. Aber welches? Netz am Stiel? Oft schlecht zu sehen, manchmal fällt es auch aus. Rote Poren? Und bei heiß-trockenem Wetter? Alter Satanspilz? Alte Netzhexe? Blauendes Fleisch?
Vielleicht eine Kombination, um - falls ein Merkmal untypisch ist, mit einem zweiten es zu retten...
Nimmt man die Anatomie mit, die weniger witterungsabhängig ist, fällt es leichter, sicher zu schlüsseln. Nimmt man nur Makromerkmale, ist man doch recht eingeschränkt. Also überlegt man sich, wie man einem anderen, der wenig der Dickröhrlingsarten kennt, zu den richtigen Gattungen oder in den Gattungen zu den Arten führt. Keiner der Wege ist 100% sicher. Oder man braucht Merkmale, die andere nicht so gut nachempfinden können (Boletus s. str. und Butyriboletus mit den sehr jung verschlossenen Poren als Beispiel).
Jetzt muss man oft doppelt schlüsseln. Maronenröhrling - sowohl schmierighütig als auch filzighütig. Man muss also die Merkmalstabelle entsprechend mit der Variationsbreite füttern. Je mehr man füttert, umso umständlicher der Schlüssel, weil man immer mehr Ausnahmen (gut, bei der Marone ist das mit dem Hut typisch) aufnimmt, umso komplizierter und länger wird der Schlüssel.
Man macht also einen Kompromiss - man macht ihn so, dass man viele Kollektionen gut bestimmen kann (alle geht eh nicht, denn wer kennt von allen Arten die Merkmalsvariationsbreiten?).
Schlüsselkonstruktion ist alles andere als einfach, weil man neben der Tabelle alle möglichen Abweichungen im Kopf haben sollte. Ich hatte im Lauf meines Studiums zum Glück einen Kurs gemacht, bei dem die Technik des Schlüsselerstellens gelehrt wurde. Und einen zweiten Kurs, bei dem die Erstellung eines dichotomen Schlüssels mittels einer Software erllernt wurde, die Merkmalstabellen auswertet. Da muss man dann im Nachhinein nachbessern, dem Programm die Reihenfolge der Merkmale vorgeben, damit sicherere zuerst kommen.
Es steht aber alles mit der Güte der Merkmalstabelle.
Als ich den Ramariaschlüssel in Josefs Ramariamonographie gebastelt hatte, habe ich vorher Josef - sagen wir mal zwei Jahre lang - getrietzt, die Merkmalstabelle für alle Ramarien fertigzustellen. Ging nicht, weil mancher extrem seltenen Arten in ihrer Variationsbreite ungeklärt sind. Was nun? Man sucht ein Sondermerkmal, um sowas früh rauszuschlüsseln.
Als alles fertig war, war die Arbeit, den Ramaria-Schlüssel zu basteln, nur noch ein Wochenende in Klausur. Ich habe die Tabelle genommen und Josef bei jeder Art und jedem Merkmal ausgequetscht, wie variabel er diese ansieht und wie sicher. Extrem anstrengend für beide Seiten. Das Resultat:ein Schlüssel, der wirklich funktioniert (nach dem damaligen Artkonzept - jetzt wird genetisch ein bisserl neu gewürfelt, denke ich).
Wenn aber beim Pareys ein Schnellschlüssel mit sehr wenigen, griffigen Merkmalen angeboten wird, dann ist klar, dass er nicht immer funktionieren kann. So einfach ist die Pilzbestimmung nicht. Und ja, da sind dann auch systemische Fehler drin, denn wenn der Autor glaubt, Amanita hätte freie Lamellen, dann schlüsselt der Autor so.
Und wenn der Autor meint, Lentinus s.l. sei immer exzentrisch gestielt, dann schlüsselt er auch so.
Und manchmal ist es Zufall, was man selber wie oft gesehen hat. Ich weiß, dass der Stiel variabel ist, von exzentrisch bis zentral. Deshalb habe ich beispielsweise die Fleischkonsistenz des Stiels genommen. Ich weiß aber, dass auch das Merkmal schwammig ist. Woran erkennt man dann eine Sägeblättling i.w.S.? An den gesägten Lamellen? Das haben andere Lamellnpilze auch...
Und wie macht man saubere Merkmalstabellen für Gattungen - mit allen Ausnahmen? Und wie soll man etwas ausschlüsseln, was man selber nicht erkennt 8als Autor). Glaubst du, die Autoren von Gattungsschlüsseln (als Beispiel) können alle Gattungen makroskopisch direkt erkennen?
Nein, ein Schlüssel kann keine Bestimmungsgarantie liefern. Und ja, viele sind fehlerhaft, weil der Autor eben ein Bild von einer Art, einer Gattung vor Augen hat, das nicht die Variationsbreite abdeckt. Das wird immer so sein.
Doch was wäre die Alternative? Jede Art einzeln erlernen? Das würde nicht helfen, denn auch in den Beschreibungen hängen die Autoren mit drin - sie beschreiben, was für sie typisch ist. Die selben Fehler wie in den Schlüsseln.
Was aber nicht passieren sollte, sind echte Logikfehler. Zum Beispiel bei Punkt 4 zwischen "mit" und "ohne Schnallen" auftrennen. Und dann, wenn man bei "ohne Schnallen" weitergeht, dann dort Arten mit Schnallen zu finden, die bei dem früheren Weg "mit Schnallen" fehlen.
Das ist dann ganz offensichtlich ein echter Logikfehler. Kann vermieden werden, kann aber auch passieren (Markierungsfehler bei der Merkmalstabelle, copy-paste-Fehler usw.).
Wenn du aber erkennst, dass im Bon die Sägeblättlinge ungenau definiert sind und du weiß es besser (das geht einem oft so), dann kannst du ja stolz sagen, dass du mehr Erfahrung mit der Pilzgruppe hast als der Buchautor und für dich den Schlüssel reparieren.
Ob man sich aber wirklich ärgern muss? Glaubst du, man kann mit dem Schlüsselerstellen wirklich Geld verdienen? Auch wenn Fehler enthalten sind, ist es sehr zeitraubend. Und je mehr Mühe man sich macht, umso zeitraubender wird es. Und wenn er auch nur oft zum Schlüsselerfolg führt, dann hat er sich gelohnt.
Zudem finde ich persönlich: um einen unbekannten Pilz eingrenzen zu können, braucht man immer eine Kollektion aus mehreren Fruchtkörpern, von jung bis alt. Dann sieht man erst die Variationsbreite und wird eher das finden, was im Schlüssel gefragt wird.
Abschließend: Ja, ich würde Sägeblättlinge nicht über den Stielansatz schlüsseln (und mache das auch nicht), sondern über ihre Verwandtschaft zu Polyporus oder Gloephyllum (je nachdem, ob es Lentinus oder Neolentinus ist). Sprich, über die Fleischkonsistenz. Und da sie aber auch deutlich exzentrisch gestielt sein können (oder sind, je nach Art), nehme ich das als Kombi mit rein, als Möglichkeit (exzentrisch bis zentral gestielt). Setze ich dem "zentral gestielt" gegenüber, dann hilft mir das nur, wenn ich exzentrisch gestielte vor mir habe. Aber ich habe ja eben auch nich die Fleischkonsistenz.
Wenn man weiß, wie man mit Schlüsseln umgeht, kann man damir m.E. viel mehr und schneller lernen, als wenn man auf Einzelarteben vor sich herum werkelt. Ich will Schlüssel nicht missen. Ich verwende sie auch ständig.
Letztes Beispiel - ich hatte neulich einen kleinen schwarzen, bitunikaten Becherling. Ich kam dann (mit einem sehr groben Schlüssel mit einer sehr eingeschränkten Auswahl an Taxa - nämlich über Ellis & Ellis, Fungi on Land Plants) auf einen Gattungsnamen, der falsch war. Aber: es war die richtige Familie. Also hatte ich eine These - es ist eine Patellariaceae.
Ich habe dann einen Gattungsschlüssel der Familie Patellariaceae finden können (Internet. frei zugänglich). Und siehe da, ich konnte problemlos die Gattung schlüsseln: Rhizodiscina. Und da gibt es nur sehr wenig Arten, bei uns nur eine. Rhizodiscina ligynota.
Ohne Schlüssel hätte ich vermutlich ewig gebraucht, bis ich zufällig mal irgendwo beim Schmökern und Blättern drauf gestoßen wäre.
Ich kam über wenige Hauptmerkmale aber sehr schnell sehr weit: bitunikat - Apothecium - Hypothecium sehr mächtig und in der Tiefe aus Kugelzellen - Sporengröße und Septenzahl. Schöne Merkmale zum Schlüsseln. Ich habe inkl. Recherche sagen wir mal drei Stunden gebraucht. Und jetzt weiß ich, welche Merkmale wichtig sind, um in dem Riesenwust der Dithideomycetes die Familie der Patellariceae zu erkennen (und dank der Schlüsselpunkte war auch wieder klar, dass es da auch Hysterothecien gibt usw.).
Würde ich nicht schlüsseln... keine Chance. Ich liiieebe Schlüssel
Liebe Grüße,
Christoph