Servus Oehrling,
gerade in der Heuristik ist der Begriff Freiblättler - sorry - saublöd gewählt (sorry). Ich habe auch in Pilzkursen "gelernt", dass Knollis freie Lamellen haben, da sie ja Freiblättler sind. Da sist mehr verwirrend als hilfreich. Schau mal eine Amanita solitaria an - freie Lamellen? Manchmal vielleicht, aber generell? Eher ausgebuchtet... oder zumindest angeheftet. Oder Graue Wulstlinge. Oder Perlpilze. Oder wenn Scheidenstreiflinge plötzlich einen herablaufenden Zahn haben...
Nein, das ganze beruht eben auf dem Nachbeten eines Begriffs von Ricken, der diesen in seinem Vademacum genutzt hat, dem ersten größeren Feldführer. Gemeint hat er damit aber die Pilze mit Sollbruchstelle am Hut.
Das ganze führt dazu, dass viele Einsteigerschlüssel wie im Bon und anderen Büchern, z.B. auch Lüder, behaupten, die Nichtfreiblättler hätten allesamt keine freien Lamellen. Sowas merkt man sich ja gerade als Einsteiger. Und wer dann kritisch nachschaut, wird völlig verwirrt, wenn der Nelkenschwindling plötzlich freie Lamellen hat. Und wenn dann der Kursleiter sagen würde - nein, das ist kein Freiblättler, schau, die sind irgendwo sicher am Stiel angewachsen, dann verwirrt das noch mehr. Oder wenn dem Wulstling plötzlich freie Lamellen eingeredet werden.
dazu ein Bild
![](https://www.pilzforum.eu/attachment/324034-a-excelsa05-jpg/?thumbnail=1)
Das ist ein Grauer Wulstling, Amanita excelsa. Wo hat der freie Lamellen? Eben. Man sieht aber sehr schön die Sollbruchstelle, die halbkriesförmig das Stiel- vom Hutfleisch trennt (Fleischkonsistenz ist anders - im oberen Stiel sind Kugelzellen wie bei Täublingen, daher ist das Fleisch hier homogener als im Hut.
Wenn man schon weiß, dass der Begriff der freien Lamellen nur teilweise mit dem der "Freiblättler" korreliert ist, dann ist es ungünstig, ihn bei Kursen zu verwenden. Es sei denn, man macht es historisch korrekt, indem man das "frei" auf Hut vom Stiel bezieht, aber kein Dogma aufstellt, dass bei allen anderen die Lamellen angewachsen und bei Freiblättlern frei seien.
Im Endeffekt fördert das nur, dass die, die in der Lage wären, auf Details zu achten, davon verwirrt werden und es dann lassen und eben weiterhin grob bestimmten. Das hat mit Wissenschaftlichkeit vs. Praxis nichts zu tun. Im Gegenteil - gerade in der Praxis ist der Begriff Freiblättler einer der verwirrendsten und falsch interpretiertesten Begriffe überhaupt. Und das zieht sich in fast allen populären Büchern durch, weil sich kaum jemand traut, dem Dogma zu widersprechen oder es eben selber noch nicht so gesehen hatte.
Ging mir übrigens auch so. "Dank" meiner Kurse in Hornberg waren für mich Amaniten generelle freiblättrig. Und da ich die Gattung auch so von oben erkenne und die Lamellenanwuchsweise nur ein weiteres Hilfsmerkmal sind, habe ich gar nicht drauf geachtet, dass das so nicht stimmt. In meinem ersten (kleinen) Pilzbuch habe ich daher auch selber bei Amanita geschrieben "Lamellen frei". Ebene wegen dieses Begriffs.
Erst später, als ich dann selber Pilzkurse anbot (ich hatte ja mal für die DGfM PSV ausgebildet) und alle Teilnehmer immer aufforderte, genau hinzuschauen, kam für mich heraus, dass Amanita meist keine freien Lamellen hat. Was hatte ich mich geärgert, dass ich dem, was mir früher beigebracht wurde, so blind vertraute und in einem Buch "Lamellen frei" ohne Anmerkungen wie "bis breit angewachsen" geschrieben hatte. Danach war ich schlauer.
Aber jetzt weiß ich, warum eben Rüblinge und Schwindlinge (etc.) keine freien Lamellen haben "dürfen", auch wenn die es haben. Denn die haben ja alle per Dogma angewachsene Lamellen (siehe Lüder, Grundkurs Pilzbestimmung S. 204 als "Tricholomatales" was auch immer diese Ordnung sein soll).
Über Aussagen, dass alle Amaniten weißes Sporenpulver haben, brauche ich jetzt nichts zu schreiben, da es hier ja um die Lamellenanwachsweise geht. Aber auch da hält sich der Aberglaube an feste Merkregeln aus diversen Pilzkursen, die falsch sind und die trotzdem auch in vielen Büchern stehen.
Liebe Grüße,
Christoph
P.S.: hatte das zweite Bild vergessen:
![](https://www.pilzforum.eu/attachment/324035-2019-10-30-marasmius-oreades-08-jpg/?thumbnail=1)
Sind die Lamellen frei oder angeheftet? Ich habe auf die schnelle kein besseres Foto gefunden - ich habe irgendwo eins, wo sie klar frei sind. Hier kann man nur sehen, dass die Lamellen parallel zum Stiel in Richtung Hutfleisch verlaufen, dort aber kaum Abstand zwischen Lamelle und Stiel ist. Mit dem Stiel sind die Lamellen aber nicht verwachsen.