Hallo Stephan,
Da stimme ich dir völlig zu! Gattungen sind menschengemacht, aber schon vor der Genetik redete man immer von "verwandten Arten", nicht von "optisch ähnlichen Arten".
Der Grundgedanke der Systematik war immer, die vermutlichen Verwandtschaftsgrade der Pilze irgendwie in eine menschengemachte Struktur zu zwängen.
Nur: Nach welchen Merkmalen? Das haben uns die Pilze nie mitgeteilt!
Oder habe ich ein Buch übersehen, das bezüglich Gattungen ohne jeden Widerspruch und für alle Zeiten über alle Zweifel erhaben ist, wenn man die Genetik mal aussen vor lässt?
Früher musste man anhand verschiedener Theorien morphologische Merkmale für die Trennung auswählen.
Zum Glück lagen die Mykologen in der Vergangenheit meistens richtig, sonst wäre das Chaos jetzt noch viel grösser.
So konnten viele grosse Gattungen trotz Genetik beibehalten werden.
Ich frage mich auch, ob die rein morphologische Bildung von Gattungen (vor ca. dem Jahr 2000) wirklich immer vorteilhafter war.
Natürlich gab es da weniger Gattungen, das war auf den ersten Blick übersichtlicher. Aber es gab auch sehr unlogische Gattungen, einige Beispiele:
Tintlinge:
Warum genau muss ein winziger Rädchen-Tintling und der Schopftintling in der gleichen Gattung sein?
Der eine wächst auf Mist, der andere auf dem Boden, noch andere auf Holz. Bei manchen Tintlingen zerfliessen die Lamellen, bei anderen welken sie nur.
Es gibt knallrote und schneeweisse Tintlinge, solche mit oder ohne Seten. Selbst die Sporenform und die Velumstruktur sind sehr unterschiedlich.
Es bleibt eigentlich kaum mehr als die Sporenfulverfarbe als Begründung.
Rüblinge:
Die winzigen, auf mumifizierten Pilzen wachsenden, weissporigen Sklerotien-Rüblinge und der terrestrische, rosasporige Butterrübling waren auch einmal in der gleichen Gattung. Nur warum? Da gibt es herzlich wenig Gemeinsamkeiten, den Lamellenansatz vielleicht.
Ich sehe nicht, wie das die Pilzwelt einfacher machte. Eigentlich nur dadurch, dass die Liste von Pilzgattungen kürzer war. Einem Anfänger das Konzept des "Rüblings" zu erklären, war nicht wirklich trivial.
Trichterlinge:
Was haben die Nebelkappe, kleine hygrophane Trichterlinge, und die aerifer bereiften Wiesentrichterlinge nochmal gemeinsam? Vielleicht das weisse (oder zumindest helle) Sporenpulver, und dass sie keine Zystiden haben. Aber da braucht der Anfänger ja schon wieder ein Mikroskop, das will er auch nicht. Die Sporenform reicht von tropfenförmig über elliptisch bis spindelförmig. Trichterförmig sind sie nicht alle, sie haben nicht einmal alle herablaufende Lamellen. Es gibt Trichterlinge terrestrisch, auf Mist oder auf Holz. Da musste man sich einfach dran gewöhnen, dass es offenbar trotzdem alles Trichterlinge sind. Das scheint mir nicht weniger abwegig, als dass die drei Sklerotienrüblinge nun auch zu Clitocybe gehören sollen.
Breitblatt:
Das ist so eine Art, die von Gattung zu Gattung rumgereicht wurde, bevor es als Megacollybia zur Ruhe kam. Auch so eine Gattung, die wir inzwischen alle akzeptiert haben, und die auch genetisch bestätigt und seitdem nie mehr in Frage gestellt wurde. Man findet das Breitblatt aber auch unter Tricholomopsis, Clitocybula, Collybia, Oudemansiella, Hydropus und Gymnopus. Für jede dieser Zuordnungen gab es valide Argumente, je nachdem welche Merkmale ein Autor wie stark für die Gattungsunterscheidung gewichtete. Da gab es ja keine verbindlichen Vorschriften, also verschiedene Lehrmeinungen und hitzige Diskussionen ohne Ende. Also, in welche Gattung gehört das Breitblatt, wenn man die moderne Gattung Megacollybia aus Prinzip ablehnen möchte?
Die Genetik löst nicht alle Probleme, sie ist kein Allheilmittel, und wird manchmal auch für vorschnelle Forschungsergebnisse missbraucht. Aber sie hat sich zumindest als einheitliches Werkzeug durchgesetzt. Es gibt nicht mehr die "französische Schule", die "deutsche Schule" und die "nordische Schule" mit verschiedenen Artkonzepten, hinter denen meistens wenige "gottgleiche" Mykologen mit einer Schar von Jüngern standen. Mir ist ein gemeinsames, weltweit anerkanntes Werkzeug lieber, als ein Chaos von verschiedenen Lehrmeinungen. Dafür nehme ich ein paar unbequeme Umkombinierungen gerne in Kauf.
Aber ja, auch mit der Genetik wird nicht alles perfekt. So waren die Nordländer bei der Aufteilung von Cortinarius zu voreilig, und die Chinesen haben Clitocybe/Lepista unglücklich umkombiniert. Solche Sachen sind halt die Schattenseite der Genetik.
So genug geschrieben, ich will hier eigentlich niemand umerziehen. Ich kann die andere Sichtweise auch gut nachvollziehen, also alles gut
LG Raphael